Herausforderungen

Gesundheitsversorgung im Umbruch

Die demografische Entwicklung der kommenden zwanzig Jahre wird die medizinische Versorgung mehr und mehr unter Druck setzen. Durch den Renteneintritt der Babyboomer-Generation (Jahrgänge 1955 bis 1969) steht dem wachsenden medizinischen und pflegerischen Versorgungsbedarf einer alternden Bevölkerung gleichzeitig ein Rückgang der erwerbstätigen Bevölkerung und damit auch des medizinischen und pflegerischen Personals gegenüber. Der Mangel, den wir in bestimmten Regionen heute schon beklagen, steht uns deutschlandweit noch bevor: Insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen werden echte Versorgungslücken entstehen oder sich verstetigen. Denn die wenigen jüngeren Fachkräfte, die dem Versorgungssystem überhaupt zur Verfügung stehen, neigen zur Abwanderung in urbane Zentren.

Alexandra Eicher
Wir haben ein Vernetzungsproblem zwischen den regionalen medizinischen und pflegerischen Angeboten.

Alexandra Eichner,
Geschäftsführerin Unternehmung Gesundheit Hochfranken

Heute gilt das deutsche Gesundheitswesen hinsichtlich des Zugangs zur Versorgung auf qualitativ hochwertigem Leistungsniveau unabhängig von Wohnort und sozialem Status als eines der besten weltweit. Mit dem eingeschlagenen demografischen Pfad steuert das Land jedoch auf eine echte Versorgungskrise zu, wenn nicht parallel substanzielle Änderungen im Gesundheitssystem auf den Weg gebracht werden. Das hohe Versorgungsniveau und die Verfügbarkeit ambulanter und stationärer Versorgungs- sowie Pflegeangebote wird in der bisherigen Form nicht aufrechterhalten werden können. Längere Anfahrtswege und Wartezeiten werden nicht die einzigen Folgen sein. In strukturschwachen Regionen stellt die Wiederbesetzung von Arztsitzen schon heute eine große Herausforderung dar.[1] Dieser Mangel führt auch dazu, dass weniger ärztliche Früherkennung und Prävention durchgeführt werden kann und infolgedessen eigentlich vermeidbare und früh behandelbare Erkrankungen zunehmen werden.

Die wachsende Schere zwischen Versorgungsangebot und -bedarf stellt nicht nur aus gesundheitspolitischen Gesichtspunkten ein Risiko für strukturschwache Regionen dar. Letztlich ist es nur einer von vielen Faktoren, der die Attraktivität von Regionen beeinflusst und damit auch über den potenziellen Zuzug von gut ausgebildeten Fachkräften, also nicht allein von Ärztinnen und Ärzten, entscheiden wird. Und selbst dort, wo dies gelingt, ist in Rechnung zu stellen, dass sich die Lebenswirklichkeiten und Ansprüche an die eigene „Work-Life-Balance“ der jüngeren Generation von der älteren unterscheiden.

UseCase2 Thomas_Schang
Das Hauptproblem der Versorgung sind die fehlende Koordination und Kooperation entlang der gesamten Versorgungskette.

Dr. Thomas Schang,
Gründer Ärztenetz Eutin-Malente

Und doch steht Deutschland noch vergleichsweise gut da, denn noch nie gab es so viele Mediziner im Gesundheitssystem wie heute.[2] Mit Blick auf deren Altersstruktur ist die bevorstehende Renteneintrittswelle der Babyboomer-Jahrgänge jedoch umso dramatischer. Sie wird unser Gesundheitssystem flächendeckend verändern und überall zu spüren sein. Regionen, die heute schon als strukturschwach und unterversorgt gelten, sind vor diesem Hintergrund nicht als lokale Randphänomene einer ansonsten intakten Gesundheitsversorgung zu verstehen. Sie sollten viel mehr als unfreiwillige Modellregionen für die Entwicklung der Versorgung in einer stark alternden Gesellschaft, also für Deutschland insgesamt, betrachtet werden. Ihr besonderer Erkenntniswert besteht darin, dass sie uns sowohl einen Ausblick auf die Versorgungslücken der Zukunft bieten als auch die Identifikation von Stützpfeilern für neue Versorgungsarrangements in einem Kontext des Mangels ermöglichen. Insofern sind sie ein Vorgriff auf die Zukunft der medizinischen Versorgung im negativen wie im positiven Sinne. Die Diagnose ist nicht neu. Umso mehr verwundert die Stagnation in der versorgungspolitischen Reformdebatte, in der eine überfällige Demografiewende nach wie vor auf sich warten lässt.

Was uns erwartet

Menschen über 65

Die Anzahl der Menschen über 65 Jahre in Deutschland wird sich bis zum Jahr 2040 voraussichtlich um 4,1Mio. Menschen erhöhen, was einem Zuwachs von 23% entspricht und eine mit dem Alter korrelierende gesteigerte Morbiditätsbelastung nach sich ziehen wird. Besonders stark wird der Zuwachs in den westdeutschen Flächenländern sein (28%–35%). Die ostdeutschen Länder weisen bereits jetzt einen deutlich älteren Bevölkerungsdurchschnitt auf.[3]

Ärztemangel

In Deutschland wird bis zum Jahr 2030 vor allem für die Gruppe der Hausärzte und der fachärztlichen „Grundversorger“ ein Ärztemangel erwartet. Allein bei den Hausärzten werden ca. 10.000 Stellen fehlen. Zugleich führt der Trend reduzierter Arbeitszeiten zu einem Auseinanderdriften zwischen medizinischer Nachfrage und Angebot. Circa 40 % der Landkreise werden unterversorgt oder von Unterversorgung bedroht sein.[4]

Ärzte kurz vor Rentenalter

Im Jahr 2022 lag der Altersdurchschnitt der Ärzte bereits bei 54,1 Jahren. 60 % der Ärzte sind heute 50 Jahre alt oder älter. In der hausärztlichen Versorgung ist der Anteil der über 60-Jährigen mit über einem Drittel besonders hoch.[5] Mit Blick auf die letzten 10 Jahre wird die Wirkung der demografischen Situation mehr als deutlich. Waren beispielsweise im Jahr 2013 circa 40 % der Hausärzte jünger als 50 Jahre, waren es im Jahr 2022 nur noch 30 %.[6]

Pflegemangel

Für den Pflegebereich zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. So wird prognostiziert, dass bis zum Jahr 2030 ein Mangel von etwa 180.000 Pflegefachkräften bestehen wird.[7]

Ländliche Gebiete

In ländlichen Gebieten ist der Ärztemangel besonders akut, da junge Ärzte häufiger in Städten arbeiten wollen. Im Jahr 2021 betrug die durchschnittliche Anzahl von Hausärzten auf 100.000 Einwohner in städtischen Gebieten etwa 90, während sie in ländlichen Regionen bei etwa 70 lag.[8]

Mangelnde Lösungsstrategien für die Versorgungskrise

Für die existenziellen Herausforderungen der kommenden Jahre zeichnet sich bislang keine angemessene gesundheitspolitische Lösungsstrategie ab. Vielmehr erleben wir in Bund und Ländern bei aller Beschwörung der Bereitschaft zum Wandel de facto eine Kontinuitätsfiktion: Es dominieren die alten Verteilungskämpfe entlang der klassischen Sektorengrenzen. Föderale Kompetenzen werden schon aus Prinzip verteidigt, ohne auch vollumfänglich der damit korrespondierenden Verantwortung in der Praxis gerecht zu werden. Zugleich schafft die Politik immer neue Leistungsansprüche in unverbundenen Parallelstrukturen. Dies zementiert einen Status quo, der nicht die nötige Resilienz im Umgang mit wachsendem personellen Ressourcenmangel aufweist und der, wie die Debatte über strukturelle Defizite in der Krankenversicherung zeigt, ohne Strukturreform finanziell nicht tragfähig sein wird. Diese Kontinuitätsfiktion der deutschen Gesundheitspolitik nimmt ihrerseits Rücksicht auf eine Bevölkerung, die in einem Kontext multipler Krisen zumindest in der medizinischen Versorgung Stabilität erwartet. Zur Tragik dieses Politikansatzes gehört, dass er die Enttäuschung über dieses Stabilitätsversprechen nicht aufhalten kann, sondern durch das unhaltbare Versprechen des „Weiter so!“ Akzeptanzverluste faktisch forciert. Es bleibt abzuwarten, ob es der aktuellen Krankenhausreform, von ihren Urhebern mit der Notwendigkeit einer bedarfsgerechten „Revolution“ der Versorgungsstrukturen begründet, gelingt, vom bisherigen Pfad abzuweichen.

Die politische Unterstützung regionaler Versorgungsinitiativen muss dringend angepasst und ineffiziente Überregulierung abgebaut werden.

Christopher Kaufmann,
Geschäftsführer Gesundes Landleben GmbH

Effiziente Koordination knapper Ressourcen als existenzielle Aufgabe für die Sicherung einer Grundversorgung in strukturschwachen Gebieten

Ein grundsätzliches Problem unseres heutigen Versorgungssystems ist die mangelnde Koordination zum Teil hoch spezialisierter Leistungen und zum Teil überflüssiger Leistungsmengen. Dies führt insbesondere bei älteren, multimorbiden Patienten immer wieder zu Über- und Fehlversorgung. In strukturschwachen Gebieten indes ist die fehlende Abstimmung ein verschärfender Faktor der Unterversorgung, weil der ineffiziente Einsatz knapper Ressourcen den Ressourcenmangel auf die Spitze treibt.

In Gesundheitsforschung und Politik besteht ein breiter Konsens darüber, dass sich die System- beteiligten besser vernetzen und koordinieren müssen, damit die Qualität, die Sicherheit und die Effizienz der Versorgung erhalten bleiben oder gar steigen und das System bezahlbar bleibt. Der Blick in die Praxis offenbart jedoch – euphemistisch ausgedrückt – ein weitgehend ungenutztes Potenzial. Insbesondere an den Übergängen zwischen medizinischer und pflegerischer Versorgung werden mangels abgestimmter und gemeinsam koordinierter Leistungsangebote vorhandene Ressourcen vielfach nicht oder nur ineffizient genutzt. Daraus resultiert der regelmäßige Ruf nach mehr Zusammenarbeit, der auch in einzelnen, regional begrenzten Gesundheitsnetzen ein Echo findet.

Es liegt nahe, dass Gesundheitsnetze regional variieren. In einer strukturstarken Region können sie zumindest potenziell einen Beitrag zur optimierten Vollversorgung leisten, während sie in einer strukturschwachen Region mit begrenzten personellen Ressourcen eher ein Mittel zur Aufrechterhaltung einer Grundversorgung sind, indem die verfügbaren medizinischen und pflegerischen Kompetenzen so effizient wie möglich eingesetzt werden. Obwohl die demografische Wende mit dem Eintritt der Babyboomer in das Rentenalter bereits begonnen hat, stößt der nötige ressourcenorientierte Paradigmenwechsel in der Versorgung nach wie vor auf strukturelle Hürden.[9] Diese Hürden sind auch Thema der vorliegenden Studie.

Helmut Hildebrandt
Wir brauchen ein Gesundheitssystem, das Gesundheit produziert, anstatt die Verdienstmöglichkeiten durch Krankheit zu steigern.

Dr. h.c. Helmut Hildebrandt,
OptiMedis AG

Literaturverzeichnis

1 Kassenärztliche Bundesvereinigung (Hrsg. 2023): Sicherstellungsmaßnahmen der kassenärztlichen Vereinigungen. [02.08.2023]

2 Bundesärztekammer (Hrsg. 2023): Ärztestatistik zum 31. Dezember 2022. Bundesgebiet gesamt (PDF-Dokument). [02.08.2023]

3 Statistisches Bundesamt (Hrsg. 2023): 2035 werden in Deutschland 4 Millionen mehr ab 67-Jährige wohnen. [02.08.2023]

4 Robert-Bosch-Stiftung (Hrsg. 2023): 2035 fehlen in Deutschland rund 11.000 Hausärzte – Experten empfehlen den Aufbau von Gesundheitszentren. [02.08.2023]
5 Kassenärztliche Bundesvereinigung (Hrsg. 2023): Niedergelassene Ärztinnen und Ärzte werden immer älter. [02.08.2023]
6 ebenda
7 Barmer Pflegereport 2021 (Hrsg. 2023): Zahl Pflegebedürftiger steigt stärker als angenommen. [02.08.2023] Zum zusätzlichen Stellenbedarf in der Pflege vergleiche die aktuelle Hochrechnung auf www.generationengerechte-pflege.de
8 Kassenärztliche Bundesvereinigung (Hrsg. 2023): Regionale Verteilung der Ärztinnen und Ärzte in der vertragsärztlichen Versorgung. [02.08.2023]
9 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (Hrsg. 2023): Resilienz im Gesundheitswesen: Wege zur Bewältigung künftiger Krisen. Gutachten 2023 (PDF-Dokument). [02.08.2023]