Interview mit Annette Hempen

Stellvertretende Vorsitzende im Ada-Bundesverband und Geschäftsführerin der Genossenschaft MuM - Medizin und Mehr in Bünde zu den Vorteilen und Herausforderungen bei der Netzgründung

Durch eine intensivierte Kooperation und Kommunikation zwischen den zertifizierten Verbundpraxen wird eine Optimierung der fachübergreifenden Behandlungsprozesse erreicht – Patienten und Patientinnen können ganzheitlicher behandelt werden.

Annette Hempen,
Geschäftsführerin des Ärztenetzes MuM – Medizin und Mehr eG und stellvertretende Vorstandsvorsitzende im Bundesverband der Arzt-, Praxis- und Gesundheitsnetze

Frau Annette Hempen, Sie sind seit 2016 Geschäftsführerin des Ärztenetzes MuM – Medizin und Mehr eG und stellvertretende Vorstandsvorsitzende im Bundesverband der Arzt-, Praxis- und Gesundheitsnetze. Das MuM gilt heute als eines der Paradebeispiele gelungener Gesundheitsnetze in Deutschland. Es kann bereits auf eine 29-jährige Geschichte in der Region zurückblicken und ist eines der wenigen Netze, das auf einen Pflegeheimvertrag verweisen kann, der durch alle gesetzlichen Krankenkassen unterstützt wird. Wir freuen uns, dass Sie sich als Gesundheitsnetzwerkerin Zeit für ein Interview genommen haben und über Ihre Erfahrungen berichten. Doch bevor wir anfangen, schildern Sie uns doch bitte ein wenig die Region und das Netzwerk.

Das Ärztenetz MuM liegt in Bünde im nordöstlichen Nordrhein-Westfalen. Rund um Bünde erstreckt es sich auf einen Umkreis von zirka 30 km und verbindet heute 76 Mitglieder verschiedenerer Fachdisziplinen. Dabei ist uns im MuM die Vernetzung und der offene Dialog zwischen den beteiligten Ärztinnen und Ärzten besonders wichtig. Durch eine intensivierte Kooperation und Kommunikation zwischen den zertifizierten Verbundpraxen wird eine Optimierung der fachübergreifenden Behandlungsprozesse erreicht – Patienten und Patientinnen können ganzheitlicher behandelt werden. Diese vernetzte Herangehensweise funktioniert bei uns besonders gut und wird von allen Beteiligten positiv wahrgenommen. Die notwendigen Rahmenbedingungen, um beispielsweise innovative Versorgungskonzepte zu realisieren und die Optimierung der fachübergreifenden Behandlungsprozesse zu erreichen, schafft wiederum das Netzwerk selbst. Gleichzeitig setzt es sich aktiv für die Belange seiner Mitglieder ein.

 

Worin würden Sie sagen, liegen die Stärken des Ärztenetzes MuM, die es von anderen Netzwerken abhebt?

Das MuM leistet tagtäglich wichtige Versorgungsleistungen für die Region. Wir haben dazu mehrere Selektivverträge abgeschlossen und ein multiprofessionelles, 30-köpfiges Team aufgebaut. Besonders stolz sind wir zudem auf unsere innovativen Projekte in den Bereichen Telemedizin und Digitalisierung.

Wir passen dabei unsere Dienste flexibel an die aktuellen Bedürfnisse der Region an, was eine unserer größten Stärken ist. Egal ob es um die Beschaffung von Materialien geht, das Einrichten von Abstrichstellen oder Kinderimpfzentren während der Corona-Pandemie oder um die Entwicklung von Versorgungskonzepten für Long COVID-Patienten – das MuM erfindet sich immer wieder neu, um effektiv auf Herausforderungen zu reagieren.


Wenn Sie auf die Entwicklung des Netzwerkes zurückschauen, könnten Sie bitte erläutern, aus welcher Motivation heraus damals das Netzwerk gegründet wurde?

Zwei große Faktoren spielten für die Gründung eine entscheidende Rolle. Zum einen bestand das Gründerteam aus Ärztinnen und Ärzten, die sich bereits aus der Klinik kannten und mehr oder weniger gleichzeitig in die Niederlassung gegangen sind. Dabei haben sie festgestellt, dass sie gerne auch weiterhin im Sinne ihrer Patientinnen und Patienten zusammenarbeiten möchten. Sie haben zudem erkannt, dass durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit effektiver auf die Patientenbedürfnisse eingegangen werden kann.

Der zweite Faktor war die erfolgreiche Verhandlung eines Gesamtbudgets bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV). Dazu brauchte es viel Vertrauen innerhalb der Ärzteschaft und mit der KV. Durch die Vereinbarung war es möglich, eine finanzielle Grundlage zu schaffen, auf die sich auch das Netzwerkarbeit stützen konnte. Später wurde dieses Gesamtbudget jedoch durch die KV wieder kassiert und in einzelne Versorgungsverträge überführt.

Die Gründung selbst geschah jedoch nicht vor dem Hintergrund eines Versorgungs- oder Fachkräftemangels wie es vielleicht heute in vielen Regionen der Fall ist. Vielmehr wurden, wie gesagt, schon damals die Vorteile einer koordinierten und integrierten Versorgung für die Ärzteschaft und die Patientinnen und Patienten erkannt.

 

Wo sehen Sie die wichtigsten Faktoren für die positive Entwicklung, die MuM im Verlauf der letzten Jahrzehnte vorweisen konnte?

Einer der entscheidenden Aspekte für den Erfolg ist zweifellos das Engagement von Personen mit einem starken unternehmerischen Geist, die die Fähigkeit besitzen, Menschen zu integrieren und zusammenzubringen. Oftmals wird nach harten Kriterien gefragt, wenn es um Erfolg geht, doch letztendlich liegt der Schlüssel oft im menschlichen Element. Die Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen und die Fähigkeit zur Zusammenarbeit spielen eine entscheidende Rolle für den Erfolg eines Unternehmens oder Konsortiums. Es gab immer Menschen beim MuM, die über ausgezeichnete Kommunikationsfähigkeiten verfügten und kooperativ arbeiten wollten und konnten.
Abgesehen davon wurde schon frühzeitig versucht, Synergien zu nutzen, um die Beschaffung von Materialien und die gemeinsame Nutzung von Ressourcen zu optimieren. Im Laufe der Zeit wurden zudem weitere Berufsgruppen wie z.B. Ernährungsberaterinnen und Physiotherapeuten hinzugezogen und Behandlungspfade definiert, um eine interdisziplinäre Versorgung von hoher Qualität sicherzustellen. Flankiert wurde das Ganze durch die Gründung von kleinen GmbHs, die als Plattform für Zusammenarbeit dienten. Irgendwann merkte man jedoch, dass diese vielen kleinen Einheiten sehr aufwändig in der Administration waren und sie in ein neues Konstrukt überführt werden sollten. Man kam auf die Idee der Gründung der Genossenschaft und ich glaube, das war eine sehr gute Idee.

 

Würden Sie denn auch Neugründern von Gesundheitsnetzen empfehlen direkt eine Genossenschaft zu gründen?

Ich empfehle immer allen, die gründen wollen, dass sie zunächst mit einem Verein beginnen sollten. Das ist eigentlich die einfachste Möglichkeit und mit dem geringsten Aufwand verbunden, insbesondere aus administrativer Sicht. Den Verein kann man später immer noch wandeln. In welche Gesellschaftsform man das Netz dann konkret überführt, hängt schon sehr davon ab welche Ziele das Netz verfolgt. Das kann regional sehr, sehr unterschiedlich sein.

 

Gibt es ansonsten noch Punkte, die Sie jemandem raten würden, der sich mit dem Gedanken einer Netzwerkgründung trägt?

Ich sage immer, es braucht eine Gruppe von Menschen, die sich wirklich verstehen und die gleichen Ziele verfolgen. Zumindest im „Inner Circle“ ist das wichtig- eine „Handvoll“ Menschen, die sagt: „Ja, das ist unser Netzwerk und das ist unser Ziel. Wir wollen das gemeinsam machen und wirklich auch dann, wenn der „Wind mal von vorne kommt““. Zudem sollte man sehr, sehr früh eine kaufmännische Geschäftsführung installieren und auf die Diversität der Qualifikationen achten und es kommt am Ende weniger auf die Grundqualifikationen und mehr auf die persönliche Kompetenz an.

 

Gesundheitsnetze ringen heute immer noch um eine Anerkennung im SGB V. Gleichzeitig zeigen viele Initiativen wie auch MuM, dass durch die Netzwerke vorhandene ärztliche Ressourcen auch wirklich zielgerichtet und effizient eingesetzt werden können. Wo sehen Sie den größten Trend für die Gründung von Gesundheitsnetzwerken?

Die Multiprofessionalisierung ist unsere Zukunft. Wir sollte weg kommen vom Gedanken, dass Netze nur ärztliche Mitglieder oder Kooperationspartner haben können. Es ist auch nicht unmöglich, dass die Initiative von anderen Berufsgruppen ausgeht, die in der Versorgung unterwegs sind. Es geht darum, dass wir Menschen sind, die in der Versorgung von Patientinnen und Patienten tätig sind. Das ist die Grundidee einer Versorgung im Netz. Ein weiterer „Trend“ bzw. Notwenigkeit ist natürlich die Digitalisierung auf allen Stufen der Versorgungsprozesse.

 

Heute sehen sich viele Regionen Deutschlands mit Fachkräfte- und Nachwuchsmangel konfrontiert und müssen mit der damit verbundenen Versorgungslage umgehen. Wie sieht denn die Situation rund um Bünde aus? Würden Sie sagen, das Netzwerk hilft auch dabei, mit den zuvor genannten Herausforderungen zurecht zu kommen?

Natürlich ist die Region rund um Bünde nicht entkoppelt vom allgemeinen Trend und auch wir kämpfen darum, unsere Stellen wiederzubesetzen und für Personal attraktiv zu bleiben. In letzter Zeit konnten wir alle freiwerdenden Arztstellen wiederbesetzen. Das ist sehr erfreulich! Es wird auch von der KV gesagt, das läge am Netz. In Nachbarregionen sieht es wiederum sehr, sehr schlecht aus. Wir haben auch junge Ärztinnen und Ärzte, die sich direkt bei uns melden, sagen sie möchten sich gerne im MuM Netz niederlassen. Ich habe das schon mehrfach erlebt seitdem ich hier bin und oftmals konnten wir die Anfragen direkt vermitteln. Ja, das Netzwerk macht die Region als Arbeitsstandort für junge Ärztinnen und Ärzte attraktiv.

 

Wo liegen die größten Probleme in Ihrer Region?

Wir haben große Herausforderung im Bereich der Pflege, was ja auch bundesweit ein Problem ist. Wir haben zum Beispiel im Bereich der Pflegeheimversorgung zu wenige Fachkräfte und zu wenig hoch qualifiziertes Personal. Die Vielzahl an Hilfskräften, die zum Teil nicht deutschsprachig sind, verbessert die Gesamtlage zudem kaum. Wir sind hier in einer ländlichen Übergangsregion. Aktuell betreuen wir circa 25 Pflegeeinrichtungen. Die großen Entfernungen zur Versorgung, wo einfach lange Fahrzeiten anfallen, ist auf jeden Fall eine Herausforderung.

Das MuM ist auch bekannt für elvi® - eine elektronische Arztvisite in den Pflegeheimen des Ärztenetzes und eine der ersten Lösungen dieser Art in Deutschland. Wie nutzen Sie heute noch Digitalisierung zur Versorgung im Netzwerk und warum geht es da noch immer so langsam voran?

Ja, die elvi® ist tatsächlich bei uns entwickelt, eingeführt und in über 1.000 Visiten erprobt worden. Die Televisiten werden allerdings nicht mehr gut genutzt. Das hat viele Ursachen. Televisiten werden sehr schlecht vergütet und von der Pflege nur bedingt genutzt. Die Netzabdeckung in unserer ländlichen Region ist zudem ein reelles Problem. Die Pflegeeinrichtungen haben oft eine schlechte IT-Ausrüstung, meist kein WLAN und zum Teil geringe IT-Kompetenzen.

 

Und wie sieht es mit der Finanzierung des Netzwerkes aus?

Die Finanzierung von Netzen ist immer noch ein Dauerbrenner- Thema in der Netzszene, weil wir uns immer und immer wieder neu erfinden müssen. Viele Netze fragen sich regelmäßig „wo kriegen wir den nächsten Euro her?“ Wie können wir z.B. unsere Gesundheitslotsen finanzieren und unsere Investitionen stemmen?  Derzeit können Netze keine Leistungen im Rahmen der Regelversorgung abrechnen. Wir Netze handeln unternehmerisch, in manchen Regionen fördert auch die KV, und finanzieren die Strukturen quer über verschiedene Quellen. Unsere Konzepte sind so verschieden wie der Bedarf und die Situationen in den Regionen selbst.
MuM hat das Glück im Bereich der KVWL tätig zu sein, wir erhalten eine Netzförderung und finanzieren uns über verschiedene Erlösquellen, die sich mit der Versorgung und dem Bedarf über die Jahre verändern. Stetig ist nur der Wandel.

 

Wie schätzen Sie vor dem Hintergrund die Übertragbarkeit Ihres Netzwerkes als Blaupause für andere Netzwerke in ländliche Regionen mit vorherrschenden Versorgungsmangel ein?

Allgemeine Blaupausen gibt es prinzipiell nicht. Dafür sind die regionalen Voraussetzungen und Gegebenheiten zu verschieden. Aber es gibt Erfolgsfaktoren. Wenn man die beachtet, dann hat man eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit. Neben dem zuvor erwähnten menschlichen Faktor ist die Finanzierung natürlich ein großes Thema. Es reicht nicht, nur kooperieren zu wollen. Wir brauchen eine Koordinationsfunktion in der Netzarbeit, die bezahlt werden muss. Nur durch Ehrenamt ist das auf Dauer nicht abbildbar. Wir haben beispielsweise eine Vergütungsvereinbarung für alle, die ein Amt haben. Wir haben Aufsichtsräte und Vorstände, wir haben auch einen Arzt, der sich um die die umfangreichen Fortbildungsangebote kümmert. Viele Themen sind bei uns aus dem Ehrenamt gewachsen, für eine Verstetigung brauchen wir aber professionelle Strukturen. Daher auch die Forderung an die Politik. Wenn Politik wirklich flächendeckend regionale Vernetzung haben möchte, müssen die Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden.

 

Welche Wünsche würden Sie denn abschließend in Richtung Gesundheitspolitik formulieren?

Ich erhoffe mir die weitere gesetzliche Anerkennung und Aufwertung der Gesundheitsnetze, denn aktuell kommen sie quasi nicht in den SGB vor, abgesehen davon, dass wir MVZ gründen können. Wir sollten auch die Option haben, selbst Versorgung anbieten zu können. Eine Möglichkeit wären z.B. Institutsermächtigungen wie Sie in der Krankenhausreform für Krankenhäuser aller Versorgungsstufen vorgesehen sind. Weiterhin die Möglichkeit, nicht ärztliche Leistungen im Sinne eines Case- und Caremanagements anzubieten und abzurechnen. Dafür gibt es sehr gut evaluierte Projekte. Wir möchten z.B. Community Nurses anstellen und damit die regionale Versorgung auf multiprofessionellen Schultern verteilen.
Uns ist es auch wichtig, dass Doppelstrukturen vermieden werden, wo es funktionierende Netzwerke gibt. Daher sehe ich Initiativen wie den Gesundheitskiosken in kommunaler Trägerschaft unter Umständen kritisch. Vor allem, wenn starre Regelungen für alle Regionen geschaffen werden.  Regionale Versorgung muss bedarfsorientiert, flexibel und patientenzentriert sein. Wir Netze sind dafür die Spezialisten.