Kommunen sollten als Ideen- und Impulsgeber stärker aktiv werden.
Helmut Hildebrandt ,
(OptiMedis AG)
Ausstrahlung auf unterversorgte Gebiete
Das Gesunde Kinzigtal gehört zu den ältesten und etablierten Projekten der integrierten Versorgung in Deutschland. Es ist in einer wirtschaftlich starken Region mit ausreichender Ärztezahl und guter Infrastruktur entstanden und hatte vorrangig das Ziel der Optimierung und Qualitätsverbesserung. Kann es damit beispielhaft für unterversorgte Gebiete mit gealterter Bevölkerung sein? Anders gefragt: Welche Lehren lassen sich aus dem Kinzigtal-Projekt für Regionen ziehen, in denen es an Ärzten und Pflegekräften mangelt?
Meine Motivation für die Beteiligung im Kinzigtal war von Anfang an sehr stark durch die Idee getrieben, Gesundheitsförderung und -erhaltung ebenso als Teil eines Gesundheitssystems zu begreifen, wie es auch die Krankheitsversorgung ist. Eng damit verbunden war die Frage: Wie baut man ein resilientes Gesundheitssystem auf, welches nachhaltig ist und vielmehr Gesundheit produziert, anstatt die Verdienstmöglichkeiten durch Krankheiten zu steigern? Das Kinzigtal konnte durch die Incentivierung von Versorgungseffizienz und Krankheitsminimierung in den letzten knapp 17 Jahren zeigen, dass eine Änderung der Anreizstrukturen sehr positive Effekte auf die Gesundheit haben kann. Ein Beispiel: Die Versicherten, die an den Projektaktivitäten teilnahmen, konnten ihre stationäre Pflegebedürftigkeit gegenüber einer Zwillingsgruppe um 4 Jahre nach hinten verschieben. Übrigens zu Ihrer Frage zurück: Auch das Kinzigtal bekommt inzwischen den Mangel an Fachkräften zu spüren. Mit einem genossenschaftlich von einigen der Ärzten getragenen MVZ begegnen wir diesem Mangel aber aktiv und erfolgreich.
Wenn man nachweisen will, dass solche Systeme in Deutschland grundsätzlich funktionieren, dann muss sich das Modell auch in anderen Regionen bewähren, die möglichst konträr zum Kinzigtal sind. Daher hat sich die OptiMedis AG in 2019 für das Projekt
Billstedt-Horn in Hamburg entschieden, welches ganz ähnlich zum Kinzigtal intendiert ist, jedoch in einer prekären Zielgruppe und strukturschwächeren Umgebung. Daher bestand, anders als im Kinzigtal, zunächst die Frage, wie die mögliche Unterversorgung gedeckt werden kann, bevor überhaupt über Effizienzgewinne gesprochen werden kann. Ein wesentliches Element in Billstedt-Horn sind die sogenannten Gesundheitskioske, die letztendlich vergleichbar mit der Gesundheitswelt im Kinzigtal sind. Die Kioske fungieren zunächst als Anlaufstelle für Gesundheitsfragen und können sukzessive ausgebaut werden. Anders als im Kinzigtal wurde jedoch die Umsetzung des Projektes durch eine 3-jährige Förderung aus dem Innovationsfonds realisiert und sollte dann wieder- um in einen ähnlich dem Kinzigtal-Modell gestalteten direkten Vollversorgungsvertrag mit einer Refinanzierung durch Effizienz- gewinne überführt werden. Dieser ursprüngliche Plan konnte leider nicht umgesetzt werden, da mit den Kassen andere Vertragsmodelle gewählt wurden.
Das OptiMedis-Modell, wie es u.a. im Kinzigtal umgesetzt wird, ist aus meiner Sicht in nahezu alle Regionen Deutschlands übertragbar. Wir bearbeiten heute schon Anfragen aus allen Himmelsrichtungen. Konkret arbeiten wir zum Beispiel mit dem Werra-Meißner-Kreis (Nordhessen), Lörrach (Baden-Württemberg), Urleben (Thüringen), Heringen (Hessen), Wattenscheid (Nordrhein-Westfalen), Görlitz, Leipzig-Grünau (Sachsen) und Greifswald (Mecklenburg-Vorpommern) zusammen. Lediglich in Regionen, die durch eine hohe Mobilität der Bewohnerinnen und Bewohner geprägt sind, ist die Realisierung von Effizienzgewinnen problematisch. Das erleben wir beispielsweise in studentisch geprägten Vorstädten. Dort würden die Investitionen in die Gesundheit der Bevölkerung vor Ort in andere Regionen getragen und könnten nicht zum Aufbau und Betrieb der Strukturen eingesetzt werden.
Empfehlungen
Welche Empfehlungen würden Sie heutigen Akteuren geben? Was sollte man heute noch genauso machen, was sollte man ändern?
Es ist kaum zu übersehen, dass sich die Kassen in Deutschland noch schwertun, Gesundheitsförderung und Krankheitsversorgung integrativer zu sehen und diese letztendlich auch durch entsprechende Vergütungsanreize zu verbinden. Eine Möglichkeit, die Verhandlungsposition einzelner Akteure zu stärken, sind regionale Vertragsgemeinschaften, die gemeinschaftlich gegenüber den Kassen auftreten können. Regionale Entwicklungskonferenzen (als potenzielle Erörterungs- und Entwicklungsräume für die Übernahme regionaler Versorgungsverantwortung) tragen zudem dazu bei, alle Akteure an einen Tisch zu bekommen. Kommunen sollten als Ideen- und Impulsgeber stärker aktiv werden. Das Aufbauen und Betreiben von Gesundheitsnetzen sollte externen Gesellschaften übertragen werden, die wiederum im Wettbewerb zueinanderstehen. Krankenhäuser, Ärztenetze und MVZs, die schon gute Organisationsstrukturen haben und betriebswirtschaftliches Know-how mitbringen, könnten dafür die Initiatoren sein.
Man sollte jedoch nicht der Illusion anheimfallen, dass sich allzu schnell etwas grundsätzlich in unseren Finanzierungs- und Anreizsystemen ändert. Das gegenwärtig leistungsbezogene Finanzierungsmodell ist sehr dominant, obwohl alle sehen, dass dadurch massive Fehlanreize entstehen, die Orientierung an Leistungsmengen über den effizienten Einsatz der Strukturen zu stellen. Eine Änderung ist nötig, auch um Krankheitslasten zu reduzieren. Ebenso agieren die Kassen meines Erachtens viel zu zurückhaltend. Sie glauben, das System doch irgendwie zu beherrschen und die einzelnen Sektoren steuern zu können. Tatsächlich sind sie heute aber eher Getriebene der Fehlanreize und des demografischen Wandels.
„Das Modell ist auf nahezu alle Regionen in Deutschland übertragbar.“
Interview mit Dr. h. c. Helmut Hildebrandt (OptiMedis AG) zur Übertragbarkeit des integrierten Versorgungssystems im Kinzigtal und zur Rolle der Kommunen
Prävention
Eine Besonderheit im Kinzigtal ist die starke Betonung von Prävention, Gesundheitsförderung und öffentlicher Gesundheit. Was raten Sie Kommunen und Landkreisen, die ebenso nach Lösungen suchen, wie sie den demografischen Wandel besser bewältigen können?
Aus meiner Sicht beginnen Kommunen und Landkreise, zunehmend ihre Rolle und die Dimension der künftigen Problemlage zu verstehen. Durchschnittliche Landkreise zahlen beispielsweise schon heute 20–25 Mio. Euro „Hilfe zur Pflege“ und müssen sich das Geld großteils aus der Kommunalumlage holen. Es ist daher auch für Kommunen interessant, die Pflegebedürftigkeit der Bevölkerung durch gute Präventionsangebote hinauszuzögern sowie Gesundheitskioske und Kinzigtal-ähnliche Modelle dafür umzusetzen. Eine Herausforderung ist die schon heute oft erlebte Überforderung der kommunalen Akteure mit so vielfältigen Aufgaben. Daher sehe ich ihre Rolle v. a. im Bereich der Aufsicht und Initiierung von Versorgungslösungen und nicht so sehr im Betrieb der Netz- werke. Das sollten sie lieber von Profis machen lassen.